
Durch Indien reisen und zwischen den tausenden Eindrücken von fremden Menschen, zerfallenden Gebäuden, grenzwertigen Lebensformen, eigenartigen Gerüchen und nicht verstummen wollenden Geräuschen in Yann Martels Roman Schiffbruch mit Tiger versinken ist unbedingt empfehlenswert. In Bombay (für Alteingesessene kommt Mumbai nicht in Frage) angekommen und im teilweise wieder eröffneten Taj Mahal Palace abgestiegen, hoch über dem Gate to India in sicherer (na ja…) und luxuriöser Umgebung nächtigend, erschreckten mich anderntags die Bilder auf den Strassen der Grossstadt. Arme Gestalten, kauernd im Dreck vor einer kleinen Feuerstelle, Kinder mit Kindern auf dem Arm, fünf Menschen auf einem Motorrad, Schafe auf von dürren Fahrern gelenkten Rikschas, leuchtende Kleider und weisse Zähne in dunklen, schönen Gesichtern, Unerklärbares an allen Ecken und Enden. 1.2 Milliarden Einwohner. Die haben andere Probleme als wir und als Piscine Molitor Patel, der allerdings auch Inder ist.

Die Kamera um meinen Hals rund 1200, die Uhr teuer, Kleider und Schuhe 500, Sonnenbrille 380 Franken – und ich überlege mir, ob ich dem Fahrer 50 Rupien (1.25 Franken) Trinkgeld geben soll. Pervers? Nein. Im Kontext richtig, finde ich. Und gebe das Trinkgeld ja eh. Einmal sogar 1000 Rupien, denn der Fahrer war Schutzengel mit Lebensversicherungszertifikat. Jaipur – Agra – New Delhi im Auto: Nicht wirklich zu empfehlen. Das ist wie bekifft in einer Seifenkiste mit 100 kmh durch ein Einkaufszentrum während dem Weihnachtsrummel zu kurven. Bei uns kennen wir Geisterfahrer auf der Autobahn höchstens aus dem Radio – in Indien gibt’s etwa 3 pro Stunde live. Meine letzten dunkeln Haare sind nun auch grau.
Eben, die Sache mit dem Trinkgeld. In Indien gibt es vier Kasten plus die Unberührbaren. Die sind ganz unten. Und betteln oft, da ihnen nicht viel anderes übrig bleibt. Für 10 Rupien schauen sie dich verachtend an, hundert sind zu viel. Also nix? Das rät auch der Reiseführer. Kugelschreiber sind beliebt, meinen (180) gebe ich nicht, Esswaren habe ich nicht dabei, also gibz nix. Ignorant, wenn auch gespielt, an Habenichtsen vorbei zu gehen hat nichts Edles. Unsere Sichtweise fordert Kritik an den Umständen, dem sozialen Gefälle, der schreienden Ungerechtigkeit – sie möchte Schuldzugeständnisse für die Vergehen der Kolonialherrschaften. Ich denke, ein Grossteil der Inder geht anders damit um. Das Kastendenken der Hindus erleichtert den Umgang mit dem Schicksal. Es gibt zum Beispiel weit weniger Neid und Missgunst in Indien als bei uns, denn die Menschen gehen davon aus, dass die höheren Kasten auch einmal unten waren und somit ihresgleichen. Und gleichzeitig denke ich, ob ich wohl nicht einfach alles so sehen will, um mögliche Schuldgefühle im Keim zu ersticken. Oder im Strassendreck von Agra oder Delhi – es hat genug.
Ich gebe Trinkgeld für Leistung und die Jury bin ich.

Die schönen Hotels sind unglaublich stilvoll und alle 150000 Angestellten wollen permanent Feedback. Yes, I like the restaurant. Yes, I am happy with the pool service. Yes, the room is very clean. Zuviel von dem, was bei uns oft fehlt. Piscine Molitor Patel hat es letztlich an praktisch allem gefehlt.
Ich bin wieder hier, in meinem Revier. Hat sich nicht viel verändert in den zwei Wochen. Ausser in mir drin. Es ist ruhiger geworden. Kein Wunder. Und vielen Dank an Ganesha, Lakshmi, Krishna, Allah, Jesus und all die andern, die da mitwirken.
