
Kurz nach Sonnenuntergang, nachdem die meisten Naturliebhaber den Heimweg angetreten haben, fahre ich guten Mutes mit dem flotten Velo meines Vaters zu meiner Lieblingsstelle am Türlersee, um vor der Nachtruhe noch eine Runde zu schwimmen. Perfekt – mein Plätzchen (3×1 Meter) ist frei, ich stelle mein Fahrrad hin und streife das T-Shirt ab. Die Badehose trage ich schon. Man denkt ja vor und nutzt diesen traumhaften Sommerabend möglichst effizient. Luft 26°, Wasser ebenso. Spoiled. Ich schwimme so 200 Meter gegen die Mitte des Sees. Eine Ruhe. Noch ein wenig Rückenlage und mit Blick zum leicht bewölkten Himmel mit den rosa Figuren das Glück spüren. Und wieder zurück. Easy. Kein Mensch. Das Badetuch habe ich vorsorglich (man denkt ja vor…) über der Querstange des Fahrrads bereit gelegt. Ich trockne mich ab und ziehe mich für die Heimfahrt um. Das heisst: Ich „möchte“ mich für die Heimfahrt umziehen.
Schon von Weitem höre ich ihre unsympathische, weil leicht hysterische, Stimme. Er, dürr und mittleren Alters, ist rund 30 Meter vor ihr an mir vorbei gegangen.
Sie: „Mathieu! Weshalb gehst du vorbei?“
Er: „Was?“
Sie: „Wir waren immer hier!“
Er: „Ah ja? Nein.“
Sie: „Doch, natürlich! Hier!“
Doch „hier“ stehe zur Zeit eben ich. Mit einem Fuß im warmen Schlamm wo es Spuren von Hunden, Menschen und Filp-Flops hat, mit dem andern etwa 40 cm erhöht, also unbequem, am steinigen Ufer. Das Badetuch locker um die Hüfte geschwungen und recht lächerlich wirkend, weil versuchend, mit spastischen Bewegungen die nasse Shorts von den dreckigen Füßen zu schütteln. Ein ungeeigneter Moment um so einen auf nette Vorstellungsrunde und: „Klar, kommt nur, es hat Platz, der See gehört allen!“, dabei meinend: „Shit, haut bloss ab, das ist zur Zeit mein Strändchen, hier schwimme ich.“ zu machen.
Sie gehen weiter. Universum sei Dank.
Nachdem ich zweimal draufgestanden bin grabe ich meine Badehose aus der lehmigen Pfütze, mache trotz allen Umständen ein freundlichem Gesicht und dann ein Selfie für meine Frau, bzw. für mich.

Sie kommen zurück. Verdammt. In der einen Hand das Handy und in der andern das schmutzig triefende Stück Wäsche versuche ich, sie zu ignorieren. Meine Unterhose liegt auf der andern Seite des Fahrrads auf dem feuchten Waldboden. Ich will nicht reden.
Sie: „Wir können ja die Sachen hier (Anmerkung: Rund 10 Meter entfernt, vermutlich der genetische Sicherheitsabstand) deponieren.“
Deponieren – super Wort. Wie im Militär. „Deponiert das Gepäck und die Waffen auf einer Linie! Marsch!“ Unschöne Bilder. Sie macht es vor, Mathieu folgt. Sie „deponieren“ ihre Habseligkeiten gut getarnt hinter einem Baum, denn man weiss ja nie… Ich überlege mir, ob ich vertrauenswürdig aussehe. Oder eher wie jemand, der Vollkornriegel und lauwarmes Rivella blau klaut? Was soll’s.
Sie kommt verkrampft lächelnd auf mich zu. Das Badekleid aus den Eighties, vermutlich vom Ackermann-Versand.
Sie: „Sind Sie fertig?“
Fertig? Fertig?! Wenn die wüsste, wie fertig ich wirklich bin.
Ich: „Ja, schön war’s. Sehr angenehm.“
Sie: „Ja, nicht wahr?“
Ich: „Doch, war.“
Sie lächelt schon wieder so blöd (als hätte sie einen Backenkrampf) und geht mit angewinkelten Armen zaghaft ins Wasser.
Sie: „Ha, so schön, so warm, da braucht man sich nicht mal zu benetzen!“
Hrrrgggghhhh…bitte…! Sie schwimmt endlich von dannen und verschwindet hinter dem Schilfgürtel. Durch den Fahrrad-Rahmen fische ich die Unterwäsche vom Boden und ziehe sie rasch an – fast ohne noch mit den Dreckfüssen alle Rändern zu berühren.
Mathieu kommt heran gewackelt. Im Gegensatz zu seinem Gesicht war ihres wie das eines entspannten Engels. Mathieu leidet extrem. Seine feuchten Füsse kennen das Leben bestimmt seit mehr 30 Jahren nur in gut eingetragenen Baumwollsocken und Schuhen, die dank praktischen Gummisohlen schön schützen und abfedern.
Er ächzt: „Allo!“
Ich: „Hallo.“
Fertig Dialog. Passt schon. Er stirbt ja fast, der Arme. Du meine Güte – was findet eine Frau an einem solchen Typen? Sieht ja nicht mal nach sozialer Absicherung aus, der Hungerhaken. Hoffentlich kriegen die nie Kinder. Haben die überhaupt Sex? Unschöne Vorstellung.
Er hat die Tortour überstanden und schwimmt auf sie zu. Er sieht aus wie ein Stück Treibholz.
Sie: „Mathieu! Sooo herrlich! Und so ruhig! Ich möchte im Sommer einmal nach Schweden.“
Er: „Warum?“
Sie: „Hmm – einfach so.“
Ich glaube, Mathieu versteht gar kein Deutsch. Oder die Frau nicht. Oder überhaupt nichts.
Ich jammere nicht. Ich radle dankbar nach Hause. Befreit und bereichert.